Historische Orte: Das Rathaus
Im Jahr des 100jährigen Stadtjubiläums 1908 fasste der Mülheimer Stadtrat den Grundsatzbeschluss, einen offenen Rathauswettbewerb auszuschreiben. Das Ausschreibungsverfahren sollte am 1. Februar 1911 enden, der Baubeginn war für April 1912 geplant.
Frühere Anstöße für ein neues Rathaus konkretisierten sich seit dem Amtsantritt von Dr. Paul Lembke als Oberbürgermeister Anfang 1904. Am 30. Dezember 1903 tagte der Rat zum letzten Mal im alten Rathaus, das erst 1841/42 entstanden war. Den Ansprüchen an ein Verwaltungszentrum einer expandierenden Industriestadt wie Mülheim um 1900 war das kleine Vorgängerrathaus nicht mehr gewachsen. Die Bevölkerung wuchs rasant und neue kommunale Aufgaben bei Auf- und Ausbau des Sozialstaates und bei der Entwicklung städtischer Infrastruktur mussten bewältigt werden. Eine erste Eingemeindungswelle ließ das Stadtgebiet schon 1904 auf das Siebenfache seiner ursprünglichen Größe anwachsen, und weitere Eingemeindungen sollten folgen. Mit dem 100.000. Einwohner war Mülheim 1908 schließlich sogar die jüngste Großstadt der preußischen Rheinlande geworden.
An dem reichsweit ausgeschriebenen Architektenwettbewerb beteiligten sich 176 Architekten. Das vorgesehene Grundstücksareal erstreckte sich auf zwei durch den Notweg getrennte Teilgrundstücke. Achtzehn der eingereichten Wettbewerbsbeiträge fanden bei dem hochkarätig besetzten Preisrichterkollegium aus vier namhaften, im Wettbewerbswesen nachgefragten Größen der Architekturszene des Deutschen Reiches Berücksichtigung. Zwölf Entwürfe hielten den Ausschreibungskriterien stand, sieben kamen in die engste Wahl. Unter den preisgekrönten letzten sieben Arbeiten befand sich kein Beitrag eines Mülheimer Architekten mehr, die ursprünglich mit elf Einsendungen beteiligt waren.
Wie so häufig in Architekturausscheidungen sollte nicht der erste Preisträger seinen Entwurf verwirklichen können. Der drittplazierte Entwurf der Architekten Arthur Pfeifer und Hans Großmann aus Karlsruhe mit dem Kennwort "Zwei Plätze" wurde Grundlage der weiteren Bauplanungen. Ihr Entwurf beeindruckte Preisrichterkollegium und Stadt durch städtebaulich angemessene Raumdimensionen und Dachtraufenhöhen, auch durch einen Gebäuderhythmus, der Plätze betonte und platzartige Raumerweiterung durch Fassadenrücksprünge entwickelte.
Dennoch erfuhr auch der ausgewählte drittplazierte Entwurf im Detail zurückhaltend kritische Beurteilungen. Das Raumangebot für Büros und die geringe Anzahl von Läden in den Arkaden des Erdgeschosses enttäuschten. Eine eigens gebildete 13köpfige Rathauskommission schrieb daher die Bauplanung mit dem Ziel einer Verbreiterung des Notweges zwischen den Gebäudeteilen, einer höheren, verschlankten Turmversion mit verändertem Turmhelm sowie einer schlichteren Ausführung der Schmuckformen fort.
Bauverlauf und Fertigstellung
Unvorhergesehene Ereignisse stellten die vorgesehene Fertigstellung bis 1. Januar 1915 von Baubeginn 1913 an in Frage. Hochwasser verhinderte die Betonierung des Fundaments. Einsprüche von Nachbarn gegen die Überbrückung des Notwegs mussten überwunden werden. Die Mobilmachung am Vorabend des Ersten Weltkriegs legte die Arbeiten für circa sechs Wochen brach. Trotz Weltkrieg und Kriegswirtschaft konnten aber im Juni 1915 nach halbjähriger Verzögerung die ersten Dienststellen am Notweg einziehen. Der Rathausflügel mit dem großen, repräsentativen Sitzungssaal am Markt war wegen seiner aufwendigen künstlerischen Gestaltung erst Ende 1915 beziehbar. Am 10. Februar 1916 wurde die erste Ratssitzung darin abgehalten. Das 16-jährige Provisorium im früheren Kreishaus an der Teinerstraße hatte damit ein Ende.
Der Abschlussbericht betonte die Modernität der technischen Anlagen. Die Fernheizungsanlage nutzte die Warmwasserreserven des nahen Stadtbades, eine moderne Entstaubungsanlage sorgte für gutes Raumklima der Büroräume. Auf 10.500 qm umbautem Raum verteilten sich die 154 Dienstzimmer. Hinzu kamen ca. 3000 qm für Eingangshalle und Flure. Die größte Flurlänge betrug im ersten Stockwerk 168,5 m. Der Kassenrundbau allein bedeckte 650 qm, so viel wie der große Sitzungssaal, die drei anschließenden Sitzungszimmer und die Zuschauertribünen zusammen. 317 Stufen waren bis zum Turmdachraum in 50 m Höhe zu besteigen.
Die Stadt war stolz auf ihr neues Rathaus. Sie ließ es sich auch einiges kosten - ohne Grundstückskosten 2.500.000 Mark. Der massive Backsteinbau wurde mit bayrischem Muschelkalk aus Brüchen um Würzburg verblendet. Im Inneren decken Fliesen aus Solnhofer Platten die Böden der Eingangshallen und Flure, der rote Marmor stammt aus der Gegend von Verona. In allen Sälen wurden Parkettböden verlegt, und die Wände je nach Raumnutzung unterschiedlich hochwertig vertäfelt oder bebildert, Türen und Decken kassettiert. Hinzu kam ein ausgedehntes Dekorationsprogramm aus Stuckarbeiten und Bildhauerarbeiten von dem Münchener Prof. Naager, der auch die Kandelaber und Leuchter entwarf.
Der große Sitzungssaal mit einer Presse- und einer Zuschauertribüne enthielt ein kaisertreues Bildprogramm mit den lebensgroßen Porträts Bismarcks und preußischer Generäle.
Kriegszerstörung und Wiederaufbau
Der katastrophale Bombenangriff auf Mülheim vom 22./23. Juni 1943 hinterließ massive Schäden. Er zerstörte den gesamten Dachstuhl und die oberen Stockwerke. Im Rahmen des Arbeitskreises Wiederaufbauplanung beim Reichsminister für Rüstung und Kriegsproduktion, Albert Speer, erhielt sein Erbauer Hans Großmann Ende des Kriegsjahres 1943 den umfangreichen Auftrag, als Aufbauplaner die sogenannte Wiederaufbaustadt Mülheim neu zu entwerfen, unter anderem mit der Entwicklung einer Behördenachse am nördlichen Ruhrufer. Unter Einbeziehung des Finanzamtes am Ruhrufer projektierte er eine Behördenfront mit Finanzamt, Rathaus, Sparkasse, Arbeitsamt, Industrie- und Gewerbeschule und einer Markthalle. Über das Stadium des Planens sollten diese Entwürfe aber niemals hinausgehen.
Erst zehn Jahre nach dem Krieg, den das Rathaus als notdürftig gesicherte Ruine überstand, konnten 1953 Um- und Wiederaufbau eingeleitet werden. 1959 initiierte die Stadt einen zweiten - dieses Mal beschränkten - Rathauswettbewerb. Neben dem Finanzamt ergaben Kriegslücken die Möglichkeit, das Rathaus bis an das Ruhrufer zu erweitern. Abweichend vom Preisrichtervotum beauftragte die Verwaltung das eigene Hochbauamt mit Planung und Realisierung des Vorhabens, das schließlich Oberbaurat Thissen verantwortete. 1961 begonnnen, konnten 1966 die letzten Räume bezogen werden. Im Turm des Rathauses, der leider nicht öffentlich zugänglich ist, war seit 1977 die städtische Sammlung historischer Büromaschinen untergebracht.
Im Zuge der Erweiterungen wurde das ehemalige Finanzamt, ein schmucklos kantiger Zweckbau der 1930er Jahre an der Ecke Schollenstraße / Ruhrufer in das Rathaus integriert. Ihm schlossen sich längs der Ruhr zwei vierstöckige, gestaffelt zurückversetzte, muschelkalkverblendete Baukuben ähnlicher Proportionierung an. Darin verzahnt folgte nach Norden ein siebenstöckiger, nüchtern-sachlicher Sechziger Jahre-Büroriegel. Die tragenden Pfeiler gestaltete der Künstler Ernst Rasche; ihre Reliefs symbolisieren die vier Elemente und die vier Jahreszeiten. Dieser Bauteil wurde im Rahmen des Stadtentwicklungsprojekts „Ruhrbania“ ab 2009 niedergelegt, um einer neuen Bebauung Platz zu machen.
Die im Krieg zerstörte, kleinteilige Bebauung der Nordflanke des alten Rathauses an der Friedrich-Ebert-Straße ersetzt ein quer angesetzter, langer Anbau mit hoher Glassockelfront und einem im Hauptgeschoss fast ganz verglasten Eckbau, der gleichzeitig als Foyer, Eingang, Treppenhaus und Ausstellungshalle dient. Die künstlerische Ausstattung schufen Mülheimer Künstler wie Gustav Dahler, Otto Pankok, Hermann Lickfeld und Heinrich Siepmann. Die Front öffnet sich über die Friedrich-Ebert-Straße hinweg zu einem neuen Platz. "Zwei Plätze", das Motto des Wettbewerbsbeitrags von Pfeifer und Großmann 1910, scheint wieder aufgegriffen.
Die Architekten
Der Schweizer Hans Großmann, geboren 1879 in Zürich, und Arthur Pfeifer, geboren 1878 in Karlsruhe (gestorben 1962), gründeten 1905/06 nach ihrem Studium in Karlsruhe ein gemeinsames Architektenbüro. Nach zahlreichen Aufträgen im Süden brachte der Bau des Mülheimer Rathauses bedeutende Nachfolgeaufträge für Großprojekte in Mülheim, so dass vor allem Hans Großmann seine Tätigkeit ganz nach Mülheim verlegte. Hier entwarf er bis zu seinem Tod in Mülheim 1949 bedeutende Bauten: die Stadthalle, die RWW-Verwaltungszentrale, den Wasserbahnhof und auch mehrere Siedlungen. Sie alle gehören heute zum unverwechselbaren Stadtbild Mülheims.
(Bearbeitete und gekürzte Fassung von "Das Mülheimer Rathaus der Architekten Hans Großmann und Arthur Pfeifer 1913-1916" von Monika von Alemann-Schwartz, in: Zeugen der Stadtgeschichte - Baudenkmäler und historische Orte in Mülheim an der Ruhr. Klartext Verlag, Essen 2008)
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Stand: 11.01.2023
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