Die Broich-Speldorfer Wald- und Gartenstadt
Es war die Blütezeit der Industrialisierung in Mülheim an der Ruhr. Die Produktionsstätten und Fabriken, die Anfang des 19. Jahrhunderts errichtet worden waren, lagen im Stadtkern. In unmittelbarer Nähe waren Villen für die Fabrikbesitzer und Industriellen entstanden. Sie konnten somit problemlos und schnell ihre Arbeitsplätze erreichen. Die Unternehmerfamilien, die häufig durch Eheschließungen untereinander verbunden waren, bevorzugten es, „unter sich“ zu bleiben. Somit kristallisierten sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts beliebte Wohngegenden heraus, die sich auf bestimmte Straßen und Straßenzüge beschränkten. Einige Villen, wie die des Großindustriellen August Thyssen und des Papierfabrikanten Vorster, waren von großzügigen Parks umgeben und boten somit Naherholung auf dem eigenen Anwesen. Diesen Luxus boten die die meisten stadtnahen Domizile jedoch nicht.
Die Nachfrage nach einer Art "Landerholung" kam auf und nicht wenige Mülheimer Geschäftsleute begannen, ihre Residenzen außerhalb Mülheims zu suchen. Dies war jedoch für die Stadt von Nachteil, da die Gewinnversteuerung der Unternehmer stets am Wohnort erfolgte. Auch August Thyssen, der in der Nähe seines Styrumer Werkes wohnte, machte sich - möglicherweise gedrängt von seiner Familie - auf die Suche nach einem ruhigeren und repräsentativeren Wohnsitz. Er fanden diesen 1903 in dem in Kettwig gelegenen Schloss Landsberg. Thyssen erwarb das Schloss und bezog es 1904 nach einem umfangreichen Ausbau. Einer der einflussreichsten Bürger Mülheims war damit aufs Land „geflüchtet“.
Im März 1906 bat der Mülheimer Bankier Walter Hammerstein in einem Schreiben an Oberbürgermeister Dr. Paul Lembke um die Aufstellung eines Bebauungsplanes für das Broich-Speldorfer Waldgebiet. Noch im gleichen Jahr kam es am 20. November zur Gründung der Broich-Speldorfer Gartenstadt AG. Gründer der Aktiengesellschaft waren Industrielle aus Duisburg, Mülheim und Gelsenkirchen, unter ihnen der Vorsitzende der Gelsenkirchener Bergwerks AG Emil Kirdorf. Die Hälfte der Anteile hielt die Stadt Mülheim selbst.
Grundidee des Projekts war es, betuchten Unternehmern die Möglichkeit zu geben, repräsentativ zu residieren. Mit räumlichem Abstand zum städtischen Kern konnten sie sich erholen und neue Kraft für den Arbeitsalltag schöpfen. In den Werbebroschüren der Broich-Speldorfer Gartenstadt AG wurde die Zielgruppe für dieses Unternehmen ganz klar angesprochen:
„Die Wohnungsfrage ist für den rheinisch westfälischen Industriellen fast brennender als für alle anderen Stände. Innerhalb des Reviers ein Fleckchen Erde zu finden, das vom Russe der Schornsteine, das vom Staub der Straßen, vom Lärm der Fabriken, von den giftigen Dünsten der Hochöfen nicht erreicht wird, ist fast zur Unmöglichkeit geworden [...] Auf die frühere, viel beklagte Landflucht folgt als natürliche Gegenwirkung die Stadtflucht. Man sehnt sich aus den nervenzerüttenden Lärm, aus dem Hasten und Jagen der Großstadt hinaus auf das Land, wo man ruhiger und freier zu wohnen und womöglich in einem Garten ein Stückchen Erholung zu finden hofft.“
Das Gebiet der Wald- und Gartenstadt umfasste ingesamt ein Areal vom 1.612 Morgen (rund 4,5 qkm). Die Grundstücke mussten eine gewisse Mindestgröße von fünf Morgen (12.500 qm) einhalten und nur zehn Prozent des jeweiligen Grundstücks durften bebaut werden. Grundstücksparzellen, die weniger als fünf Morgen umfassten, durften nur am Rande der Siedlung platziert werden. Die Bebauung des Areals wurde, um den Waldcharakter zu bewahren, streng reglementiert. Man wollte soviel Natur wie möglich erhalten, ohne vom wichtigen Zentrum vollends abgeschnitten zu sein. Daher baute man Straßenbahnschienen durch das Waldgebiet und erschloss es mit Straßen und Wegen. Die verkehrsgünstige Lage der Gartenstadt wurde entsprechend angepriesen.
Verschiedene Experten wurden hinzugezogen, um das Projekt anzupreisen und potentiellen Käufern schmackhaft zu machen. So war etwa der renommierte Berliner Architekt Hermann Muthesius voll des Lobes: „Mir ist kein zweites Unternehmen in Deutschland und in anderen Ländern bekannt, das so auf die jetzt einsetztende Bewegung zugeschnitten wäre, wie die Broich-Speldorfer Wald- und Gartenstadt. [...] In einer wirklich großzügigen Weise ist hier dafür gesorgt, daß die Grundstücke in einem Umfang erhalten bleiben, der den Waldcharakter vollkommen wahrt.“
Mit gutem Beispiel voran ging Emil Kirdorf, Generaldirektor der Gelsenkirchener Bergwerks AG und einer der Gründungsväter des Projekts, als er sich dort ansiedelte und jeden Morgen seinen Arbeitsweg von der Gartenstadt nach Gelsenkirchen antrat. Auch die bekannten Mülheimer Unternehmerfamilien Thyssen und Stinnes erwarben Grundstücke und planten ihre neuen Residenzen im Grünen. Trotz positiver Resonanz und intensiver Werbung wurden neben einigen kleineren Objekten jedoch nur drei große Landhausprojekte realisiert.
Der Streithof
Von 1905 bis 1907 ließ Emil Kirdorf von dem Düsseldorfer Architekten Wilhelm Zaiser sein persönliches Landhaus erbauen, den sogenannten "Streithof". Der Name des Anwesens entstand vor dem Hintergrund des Bergarbeiteraufstands von 1905. Kirdorf wird dazu wie folgt zitiert:
„Diese Verhältnisse machten mich zum Vorkämpfer in dem uns aufgezwungenen Streit [...] Zur Erinnerung an diese Zeit [...] habe ich mit Zustimmung meiner Gattin beschlossen, dem Neubau den Namen 'Streithof' beizulegen, hoffend, daß er den Meinigen und mir und meinen Nachkommen eine Stätte des Friedens und Glück werde.“
Stilistisch erinnert das Gebäude eher an ein niedersächsisches Bauernhaus als an ein klassisches Landhaus. Das große Herrenhaus - bestehend aus zwei Bauteilen - grenzt an einen Innenhof, in dessen Mitte ein Brunnen liegt. Um den Hof gruppieren sich die Remisen, die Stallungen, ein Autoschuppen, die Geschirrkammer sowie die Häuser für die Bediensteten. Die Fassade des Hauses ist betont schlicht. Die rustikale und schlichte Einstellung zur wohnhaften Umgebung wurde im Inneren des Hauses fortgeführt. Das einzige Zugeständnis an die damals übliche prunkvolle und ausladene Bau- und Wohnweise machte Kirdorf mit dem Wintergarten.
Emil Kirdorf galt als ultrakonservativer Nationalist, Bismarckverehrer und Förderer von Adolf Hitler. Eine Bismarckbüste im Garten sowie eine Hitlerbüste vor dem Fenster seines Arbeitszimmers unterstrichen diese Gesinnung. Die Sockel sind im übrigen bis heute an ihren ursprünglichen Standorten erhalten. Berühmtester Gast des Streithofs war Adolf Hitler, der - unter anderem 1937 zum 90. Geburtstag des hochbetagten Hausherrn - unter großem Aufsehen seinen Freund und Förderer Kirdorf in dessen Mülheimer Anwesen mehrfach einen Besuch abstattete.
Nach Kirdorfs Tod 1938 stand der Streithof zunächst leer und wurde unmittelbar nach Kriegsende ein Opfer von Plünderungen und diente anschließend als britische Offiziersunterkunft. Nach der Freigabe durch die Alliierten ging das Gebäude 1951 in den Besitz des Roten Kreuzes über, das dort ein Seniorenheim einrichtete. 1972 war die „Karriere“ des Streithofs als Altenwohnheim vorbei. Die unrentable Seniorenresidenz wurde nun zu einer Fachklinik für Suchtkranke umgebaut - das erste deutsche Therapiezentrum seiner Art. Die neue Einrichtung blieb in der Trägerschaft des Deutschen Roten Kreuzes, bis sie dann 1999 an ein Duisburger Privatinstitut abgegeben wurde.
Haus Küchen
Kommerzienrat Dr. Gerhard Küchen - ein Enkel von Mathias Stinnes - beauftragte 1913 den Mannheimer Architekten Rudolf Tillessen, ein Herrenhaus nach englischen Vorbild zu bauen. Die Außenfassade wurde im Neobarock gestaltet, während der Grundriss einem englischen Landhaus ähnelte. Die Vorderseite wurde mit einer repräsentativen Auffahrt ausgestattet.
Der großzügige Garten ist auf das Haus abgestimmt. Im Inneren des Hauses findet sich der gleiche prunkvolle Stil wieder, in dem auch schon die Außenfassade und der Garten gehalten sind. Im Erdgeschoss sind Herrenzimmer, Salon, Musikzimmer und Speisesaal untergebracht. Diese Repräsentationsräume befinden sich auch heute noch in ihrem Originalzustand.
Während des Zweiten Weltkriegs blieb die Villa unbeschädigt. Nach 1945 diente sie dem Hohen Kommissar der Alliierten als Wohnsitz. Zu dieser Zeit trug das Anwesen den Namen „Haus Kreutzberg“. 1952 verkaufte die Witwe Agnes Küchen den Besitz an die Evangelische Akademie. Diese machte das Haus zum „Haus der Begegnung“ und nahm einige Anbauten vor. Die teure Pflege der Parkanlage und des Gebäudes veranlasste die Evangelische Akademie im Jahr 2003, das Haus aufzugeben und sich nach einem neuen Standort umzuschauen. Seit 2006 ist Haus Küchen im Besitz der Teutonia Grundbesitz AG aus Düsseldorf. Nach einer gründlichen Renovierung steht die „Residenz Uhlenhorst“ nun Besuchern und Gästen als Hotel, Restaurant und Veranstaltungsort zur Verfügung.
Das Landhaus Fritz Thyssen (Villa Anita)
Von 1910 bis 1912 errichtete das Krefelder Architektenbüro Girmes & Oediger auf dem Grundstück der Großenbaumer Straße 250 eine Villa für die Familie von Fritz Thyssen, die später im Volksmund - nach der einzigen Tochter von Thyssen - als „Villa Anita“ bezeichnet wurde. Zuvor hatte Fritz Thyssen, der älteste Sohn August Thyssens, in der ehemaligen Villa seines Vaters am Froschenteich gewohnt, nachdem dieser nach Schloß Landsberg gezogen war.
Der anglophile Fritz Thyssen wünschte sich eine repräsentative Villa im britischen Landhausstil. Nachdem ein Architektenbüro ausgewählt worden war, um seine Wünsche umzusetzten, erwarb Thyssen das 70.000 qm große Grundstück von der Wald- und Gartenstadt AG. Es wurde ein zweigeschossiger, zweiflügeliger roter Backsteinbau mit Walmdach errichtet, der alle Kennzeichen des englischen Neobarock trug und auch im Grundriss dem Vorbild des englischen Herrensitzes folgte. Die Parkanlage wurde mit Lauben und Aussichtspunkten versehen.
Mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges 1939 floh Thyssen mit seiner Familie in die Schweiz. Daraufhin wurde sein gesamtes in Deutschland verbliebenes Vermögen beschlagnahmt, so auch das Anwesen an der Großenbaumer Straße. Die Nationalsozialisten richteten in der Villa eine Ausbildungsstätte für Kindergärtnerinnen ein, die im Sinne der Partei ideologisch geschult und auf die berufliche Praxis vorbereitet wurden.
1945 richteten die Engländer in dem Gebäude ein britisches Internat ein - die sogenannte "Englische Schule". Nachdem die Engländer das Landhaus 1969 geräumt hatten, stand es einige Jahre leer. Der Eigentümer Fritz Thyssen war mittlerweile verstorben und seine Erben - die Witwe Amelie und ihre Tochter Anita, verheiratete Gräfin de Zichy - beschlossen, sich von dem Anwesen zu trennen. 1973 verkauften sie die Villa an die Mülheimer Unternehmerfamilie Grillo, die den Bau aufwendig restaurierte und dann bezog.
Bis 1993 war das Haus eine der besterhaltensten Unternehmervillen an Rhein und Ruhr, nahezu unverändert seit dem ursprünglichen Bau. Dann vernichtete ein Feuer das Anwesen bis auf den Grund. Die Besitzerin und Bewohnerin Marita Grillo kam dabei ums Leben. 1999 wurde das Grundstück mit den Gebäuderesten an eine Duisburger Investorengesellschaft verkauft. Diese setzten anschließend ihr Konzept um, hochwertige Eigentumswohnungen in die Villa zu integrieren und einige der Nebengebäude zu Wohneinheiten umzufunktionieren. 2003 erfolgte der Wiederaufbau als „Villenpark Uhlenhorst“. Das äußere Erscheinungsbild der „Villa Anita“ wurde dabei weitgehend wiederhergestellt.
Haus Rott
Schon in den Werbebroschüren des Wald- und Gartenstadtprojekts wurde Hugo Stinnes als einer der prominenten Investoren namentlich genannt, hatte er sich doch bereits 1903 ein ausgedehntes Grundstück dort gesichert. Sein geplantes Anwesen "Haus Rott", das wohl größte Projekt, konnte jedoch nie realisiert werden. Der Erste Weltkrieg machte Stinnes Pläne zunichte. Bis zum Ausbruch des Krieges im August 1914 waren lediglich zwei Pförtnerhäuser, ein Wirtschaftsgebäude sowie ein Gäste- und Teehaus begonnen und zum Teil auch fertiggestellt worden. 1914 hätte dann die Grundsteinlegung des Herrenhauses erfolgen sollen. Das Anwesen diente trotz des nicht erbauten Haupgebäudes der Familie Stinnes zunächst als Wochenendsitz, nach Hugo Stinnes Tod 1924 auch als Hauptwohnsitz. In den 1950er Jahren ließ die Witwe Claire Stinnes ein weiteres Wohnhaus errichten, das heute nicht mehr existiert. Außerdem entstand 1954/55 in einer abseits gelegenen Ecke des Grundstücks ein Mausoleum, in das nach der Fertigstellung die sterblichen Überreste von Hugo Stinnes überführt wurden.
1967 kaufte der Mülheimer Industrielle Herbert Grillo das Anwesen von der Witwe. Der Kaufvertrag sah ein lebenslanges Wohnrecht der hochbetagten Bewohnerin vor. Nach ihrem Tod 1973 zog die Familie Grillo ein. Das frühere Wirtschaftsgebäude wurde zum Pferdestall umgebaut, das weitläufige Gelände zum Training von Pferden genutzt. Das in einem Waldstück im nördlichen Teil des Anwesens gelegene Mausoleum mit den sterblichen Überresten von Hugo und Claire Stinnes blieb bestehen und wurde - so die vertragliche Regelung - auf Kosten der neuen Eigentümer weiterhin gepflegt. Zudem wurde das ausgedehnte Grundstück von Haus Rott mit der angrenzenden Liegenschaft der Villa Fritz Thyssen, die sich mittlerweile ebenfalls im Besitz der Familie Grillo befand, vereint.
Schlußbemerkung
Die Broich-Speldorfer Gartenstadt AG war letztendlich nicht so erfolgreich wie angenommen und erhofft. Offenbar schreckte die Entfernung vom Stadtkern doch viele potenzielle Käufer ab. Das Landhaus im Grünen vermochte es nicht, sich bei den Mülheimer Unternehmern als Alternative zur Stadtvilla zu etablieren. Im Jahr 1933 wurde die Aktiengesellschaft schließlich aufgelöst. Als positiver Nebeneffekt des gescheiterten Projekts blieb die Sicherung des Uhlenhorstes als Ort der Ruhe und Naherholung für die Mülheimer Bevölkerung.
(Bearbeitet von Kristina Kerstgens auf der Grundlage von "Die Broich-Speldorfer Wald- und Gartenstadt AG" von Katrin Gems, in: Zeugen der Stadtgeschichte - Baudenkmäler und historische Orte in Mülheim an der Ruhr. Klartext Verlag, Essen 2008)
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Stand: 19.12.2022
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