MÜLHEIMER ZEITZEICHEN: Die Unruhen im April 1923
18. April 1923. In Mülheim herrschen bürgerkriegsähnliche Zustände. Alle Geschäfte der Innenstadt sind geschlossen und alle Hauptverkehrsstraßen sind gesperrt. Nur wenige Menschen trauen sich vor die Tür. „Um 4 Uhr nachmittags hatte Mülheim das Aussehen einer belagerten Stadt“, schreibt die Lokalpresse. Warum die Unruhe? Mehrere 1000 sogenannte Notstandsarbeiter protestieren vor dem Rathaus. Um 9 Uhr formulieren Rädelsführer die Forderungen der Arbeiter.
Sie verlangen von der Stadt Lohnerhöhungen in Form einer einmaligen Zusatzzahlung. Außerdem soll die Akkordarbeit auf den städtischen Baustellen abgeschafft werden. Im Gespräch mit den Anführern des Protestes macht Mülheims liberaler Oberbürgermeister Paul Lembke deutlich, dass er nicht gewillt ist, auf die Forderungen der Notstandsarbeiter einzugehen.
Daraufhin versuchen einige 100 Notstandsarbeiter das Rathaus zu stürmen und die Macht in der damals 127.000 Einwohnerinnen und Einwohner zählenden Stadt zu übernehmen. Die Rebellen sind mit Spitzhacken und Jad-Gewehren bewaffnet. Die haben sie bei Einbruch in ein Waffengeschäft erbeutet. Sie zerstören die Turmtür des Rathauses und dringen zeitweise in mehrere Rathausräume ein. Ihre Sympathisanten auf dem Rathausmarkt und an der angrenzenden Hindenburgstraße, die seit 1949 Friedrich-Ebert-Straße heißt, brechen mit Spitzhacken das Straßenpflaster auf und werfen mit den Pflastersteinen etliche Fenster des zwischen 1911 und 1916 errichteten Rathauses ein.
Bewaffnete Arbeiter umzingeln den Verwaltungssitz und lassen auf den anliegenden Straßen keine Passanten durch. „Die Straße frei!“, lautet ihre Parole. Wo bleibt die Polizei? Die ist nicht da. Denn sie ist im März 1923 von der französischen Militärregierung ausgewiesen worden. 1300 französische Soldaten sind in der Stadt stationiert, die meisten von ihnen in der Kaserne an der Kaiserstraße. Doch die Soldaten greifen nicht ein. Sie haben eigene Ziele. Sie wollen vor allem die Kohle der Mülheimer Zechen Wiesche, Humboldt und Rosenblumendelle. Die soll mit der Reichsbahn, die damals in Speldorf ein großes Ausbesserungswerk hat, nach Frankreich transportiert werden. Französische und belgische Soldaten haben im Januar 1923 mit dem Ruhrgebiet auch Mülheim besetzt. Die Kohle, die sie verlangen, ist Teil der deutschen Reparationspflichten, die der Versailler Friedensvertrag dem Kriegsverlierer Deutschland 1919 auferlegt hat. 1921 haben die Siegermächte des Ersten Weltkrieges die Gesamthöhe der deutschen Reparationen auf 132 Milliarden Mark festgelegt. 1924 reduzieren sie diese Summe auf 112 Milliarden Mark. Frankreich steht als Kriegsschuldner der USA selbst finanziell und wirtschaftlich unter Druck.
Die Besatzer treffen bei der Reichsbahn, bei der Stadtverwaltung und bei der Polizei auf passiven Widerstand. Ihre Beamten verweigern der französischen Militärregierung, die im Rathaus ein Büro für zivile Angelegenheiten einrichtet, den Gehorsam und die Zusammenarbeit.
Damit aus dem passiven ein aktiver Widerstand werden kann, weisen die Franzosen die bewaffnete Polizei aus und beschlagnahmen alle Waffen in Privatbesitz. Nicht nur im Rathaus und in der Kaserne quartieren sich französische Soldaten ein. Auch Gasthaussäle und private Wohnungen müssen für die Besatzungssoldaten und ihre technischen Inspekteure geräumt werden.
Weil das Reich die Gehälter der ausgewiesenen und im passiven Widerstand untätigen Beamten weiterzahlt, kollabiert die seit Kriegsende angeschlagene Mark endgültig. Gleichzeitig sinken die Löhne im Vergleich zum Vorkriegsjahr 1914 um 60 Prozent. Im April 1923 muss man für einen US-Dollar 29.000 Reichsmark und für ein britisches Pfund 135.000 Mark hinblättern. Das Briefporto kostet 50 Mark. Und der Stadtrat legt das monatliche Schulgeld für die Höheren Schulen auf 100.000 Mark fest.
Wer soll das bezahlen? Das fragen sich nicht nur die Arbeiter. Sie stellen damals 65 Prozent aller Erwerbstätigen der Stadt. Viele Menschen verlieren in der Hyperinflation nicht nur ihre Spareinlagen, sondern auch ihren Arbeitsplatz.
In dieser Situation lässt Oberbürgermeister Paul Lembke, nachdem heute eine Straße am Kahlenberg benannt ist, Notgeld drucken, um damit Arbeitslose als Notstandsarbeiter einzustellen und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zu finanzieren. Die wichtigste Baustelle, an der zwischen 1923 und 1925 die sogenannten Notstandsarbeiter schaffen, ist der Bau der Stadthalle. Obwohl von der Stadt beschäftigt und bezahlt, sehen sich vor allem viele junge Notstandsarbeiter um ihren gerechten Lohn gebracht.
Obwohl die protestierenden und auch randalierenden Notstandsarbeiter versuchen, am 18. April 1923, einen Generalstreik auszulösen, bleibt eine Solidarisierung mit ihnen aus. Die bürgerliche Lokalpresse stellt sich auf die Seite der Stadtverwaltung. Sie veröffentlicht eine Stellungnahme des Oberbürgermeisters. Paul Lembke weist darauf, „dass es für die Arbeitertumulte“ keinen Grund gebe, „da die Stadt alle Menschen eingestellt habe, die bei ihr nach Arbeit gefragt hätten und die „Notstandsarbeiter mit einem regulären Tariflohn“ bezahle. Auch der Reichstag und die Reichsregierung befassen sich mit den „Mülheimer Vorkommnissen“ und stellen sich hinter den Mülheimer Oberbürgermeister. Der wird während der zweitägigen Unruhen in seinem Dienstzimmer nur um eine Handbreite von einer Gewehrkugel der Aufständischen verfehlt, die das Fenster durchschlagen hat und in der gegenüberliegenden Wand stecken bleibt. Auch auf die, nahe des Bahnhofes Eppinghofen gelegene Wohnung des Oberbürgermeisters wird mehrfach geschossen, allerdings ohne, dass jemand dabei verletzt wird.
Nicht alle haben so viel Glück. Nach zwei Tagen des Aufruhrs haben sechs Menschen ihr Leben verloren. 50 sind verletzt worden. Und weitere 50 Personen, unter ihnen die Anführer der rebellischen Notstandsarbeiter, sitzen in Haft und sehen einer Anklage wegen schweren Landfriedensbruchs entgegen. Die Mülheimer Lokalpresse schreibt, dass es sich bei den Aufrührern größtenteils um „Fremde und alte Bekannte der Kriminalpolizei“ gehandelt habe. Viele von ihnen hätten sich während der Unruhen auch der Zechprellerei und der Plünderung von Geschäften schuldig gemacht.
Auch wenn es anfangs kritisch für die Rathausverteidiger aussieht, die der Oberbürgermeister in der Lokalpresse als eine „starke Schutzwache beherzter Männer“ lobt, behalten sie auch mit Waffengewalt die Oberhand. Doch bevor Waffen und Verstärkung ins Rathaus gelangen können, müssen die Rathausverteidiger, unter denen viele zum Schein entlassene und dann als Verwaltungsmitarbeiter wieder eingestellte Polizisten sind, die Angreifer mit Wasserschläuchen auf Abstand halten. Nach zwei Tagen sind die „Mülheimer Vorkommnisse“ und „Arbeitertumulte“ vorüber. Doch die französischen Soldaten werden noch zwei Jahre in der Stadt bleiben, ehe sie im August 1925 abziehen. Der passive Widerstand, über den die Zeitgenossen an der Ruhr witzeln: „Siehst du eine Kiste stehen, lass dich ruhig nieder. Der passive Widerstand kommt nie wieder!“, muss im Herbst 1923 aus finanziellen Gründen abgebrochen werden. Denn das Reich kann die Lohnausfallkosten für den öffentlichen Dienst im besetzten Ruhrgebiet nicht länger bezahlen.
(Autor: Thomas Emons)
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Stand: 20.04.2023
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