Wilhelm Dietz: "Sinter Mätes Vüögelsche"

Wilhelm Dietz: "Sinter Mätes Vüögelsche"

Mülheimer Jahrbuch von 1958 

Wilhelm Dietz:

"Sinter Mätes Vüögelsche"
in volkskundlicher Betrachtung

Wenn am Abend des 10. Novembers die Kinder erwartungsfroh und hoffnungsvoll dieses uralte Lied anstimmen und singend und gabenheischend von Haustür zu Haustür ziehen, denkt kaum noch jemand an die tiefe kulturkundliche Bedeutung dieses Gesanges. Darum lohnt es sich eine kurze Betrachtung darüber anzustellen.

Der Martinstag, der 11.11., galt früher als der Abschluss des alten und Beginn des neuen Wirtschaftsjahres - ist er doch stets einer der gebräuchlichsten Zahl- und Zinstage unserer Vorfahren gewesen. Am Niederrhein heißt es noch heute: "Zint Mäete, et betalle nit vergäete!" In fast jeder Mülheimer Urkunde verlautete es: Auf Martini sind abzuliefern: Eier, Gänse, Hühner, Aale, Schuldschweine, Geld u.v.m. Mit dieser wichtigen jahreswirtschaftlichen Bedeutung greifen wir in die volkskundliche Betrachtung tief hinein und in das 4. Jahrhundert nach Christi Geburt, als der heilige Martinus in Tours in Frankreich lebte und wirkte. Von dort her breitete sich während und nach der Völkerwanderung über Flandern, Brabant, den Niederrhein bis hierher - also auf fränkischem Siedlungsboden - der frühchristliche Erntedankfestbrauch aus, der gleichzeitig ein beliebter Fest- und Schmaustag gewesen ist, an dem auch die Martinsgans geschlachtet wurde.

So überliefert uns "Weinsberg, Bonn 1887", dass schon 1571 zu Mechtern – Hof vor Köln – ein solcher Familienfeier- und Schmaustag mit anschließendem Rundsingen der Kinder abgehalten wurde. Schon seit 1500 wird in Kölner Akten die mit Äpfeln, Rosinen und Kastanien gefüllte Martinsgans erwähnt. Mit Recht singen also die Mülheimer Kinder: "Sinter Mätes Vüögelsche het ßun ruat Kapüögelsche, gefloge, gestohwe, wiet, wiet öwer dä Rhien, wu de fette Ferke ßind." Unwillkürlich denken wir dabei an das landwirtschaftlich reiche Niederrheingebiet mit seinen altbekannten Viehmärkten und an den Beginn der Schlachtzeit, an die Würste, Speckseiten und Schinken. Die Junghennen schicken sich an, den Eiersegen zu vermehren. Wer möchte den Kindern von diesem Erntesegen nichts abgeben? Ist doch eine Kinderhand rasch gefüllt und ihr Zehntenheischen nicht so drückend wie die Abgaben an die Oberhöfe, Zehnthöfe, Klöster und Herrenhäuser. Bitten die Kleinen auch um Eier und lange Würste, so weiß man landauf und landab, dass Kinderaugen immer größer als Kindermägen sind und überhört stillschweigend diese kindliche Forderung. Auf heimatkundlichem Boden ist der Grenzbezirk gut bekannt. Im Osten liegt Essen. Noch heute besteht dort der Altenessener Vieh- und Schweinemarkt. Das Weidevieh ist vor dem Winter eingestallt worden. Fettvieh soll nicht mehr zum Kalben kommen und wird als Schlachtvieh aufgetrieben. "Hie van denn no Äße, holen en fette Bläße - Kuh -. " Die Stalltierhaltung wird bewusst verringert, um mit dem Futter hauszuhalten.

Klang bis jetzt in breitem Dietsch - dem Mülheimer Dialekt – der Gesang vor den Türen der Bauer und Kötter, um materielle Gaben einzuheimsen, so geht vor der Tür der Reichen und der geistig Bedeutsamen der Gesang ins Hochdeutsche über; die materiellen Dinge des Alltags werden von den geistig-ideellen des Zukünftigen überlagert. Das Vermächtnis Luthers – die deutsche Hochsprache – bricht sich volkskundlich hier Bahn. War und ist es doch noch Brauch, das vor den Türen der evangelischen Bevölkerung nach dem Sinter Mätes Lied das bekannte "Ein feste Burg" angestimmt wurde. Inzwischen ist die Magd, die Kleinmagd – der Stuppstatt -, die im Vorjahr noch unter den Singenden stand, zum Boden geschickt worden. Licht kann und darf wegen des Strohdaches oder des gedockten Daches wegen von ihr nicht angezündet oder mit hinaufgetragen werden. Darum bitten die Kinder, im Halbdunkel nicht neben den Nüssesack zu greifen oder mindere Apfelsorten aufzulesen. Rasch wird die Schürze der Kleinmagd vollgelesen sein, und nun steht sie am Bodenfenster, an der Eulenflucht, dem Gatt, um die Gaben hinauszuschütten. Der Schelm zuckt und ruckt. Da flehen die heischenden Kinderstimmen: "Schmiet den Appel nit de wiet, dan fällt he in dän Driet", auf den Dunghaufen oder in et Gatt - in die Abwässergrube -; den ein bißchen appetitlich soll alles bleiben.

Kein geschlossener Umzug ist es, der sich hier vor unserem volkskundlichen Auge abrollt. Truppweise zieht man, der Streusiedlung auf heimatlichem Boden entsprechend, weiter und gönnt auch den anderen Gruppen ihren Teil. "Gew watt, hault watt, tegen΄t Johr wirr watt."

Der Schlußvers des angeführten Liedes verliert sich im Dunkel der vorchristlichen Zeit, was auch verständlich ist, wenn man bedenkt, dass ein solch aufgezeigter und gedeuteter Erntedankfestbrauch nicht plötzlich mit St. Martinus, dem Heiligen, beginnen kann. Hat doch die christliche Kirche bewusst altgermanisches Brauchtum ins christliche umgeformt und umgedeutet.

"Mus, Mus komm herut, chew us Äppel und Nöte;
Äppel und Nöte sind so gutt für den aulen Pattsfutt."

Niemals kann unter "Mus" die Maus verstanden worden sein, vielmehr ist "Mus" das Gegenstück zum "Stuppstatt", also der Kleinknecht, der Herdejunge oder Hütejunge, der auf den Mülheimer Höfen mit "Enk" bezeichnet wurde. In der Schiffersprache ist der Schiffsjunge der Moses. Die Sinndeutung dieses Wortes ist der französischen Sprache analog -mousse-, der Schiffsjunge. Da die französische Schiffersprache die meisten ihrer Ausdrücke und technischen Bezeichnungen aus dem Germanischen entlehnte, so wird uns auch dieses Wort verständlich. Mit dem "aulen Pattsfutt" ist offensichtlich der Germanengott Wodan gemeint, der zum falschen Gott, dem wilden Jäger, dem Gottseibeiuns, herabsank; denn Pattsfutt ist der Pferdefuß. Im Englischen ist foot - Fuß - Huf. Möge diese kulturkundliche Plauderei eine Anregung sein, mehr denn je altes Liedgut zu sammeln, zu sichten und der Nachwelt zu überliefern. Es lohnt sich schon. 

Kritische Würdigung:

Dietz treibt keine vergleichende Lied- und Brauchtumsforschung, sondern - nach eigenen Worten - "kulturkundliche Plauderei". Ihm sind – wie Klewer - die Forschungsbeiträge von Wagner und andere Quellen zur Deutung des Martinsvögelschen nicht bekannt.

Neu ist der Hinweis auf "mousse" aus der Sprache der Schiffer, was für Mülheim naheliegt, allerdings in dem wissenschaftlichen Buch über die Schiffersprache Mülheims (Dr. Andrae) keinerlei Erwähnung findet.

Dagegen spricht auch, dass es keine anderen Liedvarianten mit dieser Deutung gibt.

Es scheint bei Dietz die auch schon von H.A.Kamp kolportierte Entstehung des Mölmsch durch Import z. B. aus den Niederlanden (Schifffahrt, Porzellanmanufaktur) ein Rolle zu spielen.

Von einer Benrather Linie, die das Niederdeutsche vom Hochdeutschen trennt, war ihm wahrscheinlich ebenfalls nichts bekannt.

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Stand: 19.10.2010

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